Es war einmal ein Fuchs und ein Storch. Nein, es war ein Kranich und eine Schlange … ganz sicher?!
In der „Bibel des Wing Tsun“ ist von einem Storch und einem Fuchs die Rede – andere Ving Tsun Schulen schwören auf die Variante Kranich gegen Schlange. Einigen wir uns hier auf die beiden Letzteren. Sie wohnten auf jeden Fall in der selben chinesischen Provinz. Beide hatten eine grundlegend unterschiedliche Einstellung dem jeweils anderen gegenüber. Der Kranich hatte die Schlange zum Fressen gerne. Die Schlange aber konnte den Kranich auf den Tod nicht ausstehen. So sind die Schlangen.
Auf jeden Fall, wie das so ist bei unterschiedlichen Meinungen, war es unumgänglich, dass es zu einer Konfrontation der Beiden kommen musste.Der Kranich wartete also eines Tages durch den heimischen Morast auf der Suche nach Fröschen und Schlangen, welche er zum Fressen gern hatte. (Die Frösche können Sie gleich wieder vergessen. Frösche können nicht kämpfen. Deshalb heisst es ja auch „sei kein Frosch“ (Anm. des Autors). Auf jeden Fall lag die Schlange auf einem Stein und sonnte sich. Aus den nicht vorhandenen Augenwinkeln sah sie den Kranich schon daher marschieren.
Nichtwissend, ob der Kranich sie entdecken würde, spannte sie vorsichtshalber ihren muskulösen und durchtrainierten Körper. Sie war bereit für eine blitzartige und kerzengerade Attacke zur Brust des Kranichs. Der direkte Angriff auf die Zentrallinie ihrer Gegner war ihre Spezialität. Genauer gesagt, war es die einzige Technik, die sie beherrschte. Dafür aber mit reichlichem Erfolg. Der Kranich kam in die Nähe des Steins und entdeckte die Schlange auf Anhieb. „Hoppla, eine Schlange!“ war sein erster Gedanke.
Beim zweiten, dritten und allen anderen Gedanken aber überlegte er sich, wie er der Schlange habhaft werden könnte. Die zerstörerische Wirkung ihrer Attacken war auch ihm bekannt. Der Kampf begann. Mit Hilfe seiner hervorragenden Beinarbeit veränderte der Kranich geschickt die Distanz, um, sofern für ihn günstig, mit seinem Schnabel nach vorne zu stossen und die Schlange direkt hinter dem Kopf zu schnappen. Die Schlange ihrerseits machte nur kurze Meidbewegungen, um dann die Angriffe des Kranichs sofort mit einem Konter zu erwidern und ihn wenn möglich zum Bodenkampf zu zwingen. Hier lagen die Vorteile zweifelsfrei bei der Schlange. So tastete man sich Runde für Runde ab. In Runde sieben oder acht wurde der Kranich langsam müde auf den Beinen, und die Schlange bekam immer mehr Oberwasser. Kurz vor der vernichtenden Attacke der Schlange setzte der Kranich seine neu entwickelte Geheimtechnik ein. Er machte eine geschickte 45 Grad Drehung und zog die Flügel schützend vor die Brust. Durch die eigene Kraft und Schnelligkeit und durch die wundersame Technik des Kranichs schoss die Schlange vorbei an dem fast geschlagenen Gegner, flog in hohem Bogen durch die Luft und landete irgendwo wo sie der Kranich nicht mehr finden konnte. Der Kranich seinerseits war selbst völlig überrascht über die Wirkung seines Schwingenarms* und setzte diese Technik noch oft mit viel Erfolg ein.
* Anmerkung der Redaktion
Die Übersetzung von Bong Sao ist nicht, wie allgemein angenommen, Schwingendem, sondern die chinesische Bezeichnung für Oberarm. Der „Schwingenarm“ ist somit auch ein Produkt von Missverständnis und Phantasie der Märchenerzähler.
Ein chinesischer Journalist namens Lee Man veröffentlichte diese Geschichte in seiner Heimat und irgendwann in ferner Zukunft glaubten die Menschen diese Geschichte.
Wir haben eine schnelllebige Zeit und die ferne Zukunft ist bereits eingetreten, schon nach rund 40 Jahren. Denn diese Geschichte stammt keineswegs vom Ende des 18. Jahrhunderts, aus der Zeit als Ving Tsun entwickelt wurde. Die meisten Kung Fu Stile begründen ihre Technik auf das Beobachten von Tieren, so zum Beispiel das Fünf-Tiere-Kung-Fu oder der Gottesanbeter Stil.
Tatsächlich bat der genannte Journalist, der gleichzeitig Yip Mans Schüler war, diesen mehrere Male um eine entsprechende Geschichte, um Ving Tsun wirksam präsentieren zu können. Dieser interessierte sich überhaupt nicht dafür, ärgerte sich aber über den aufdringlichen Schreiberling. Irgendwann hatte er genug von der Fragerei und hielt den Journalisten dazu an, selber eine Geschichte zu erfinden. Heute wird die Geschichte ohne weiteres Reflektieren mit grösster Ernsthaftigkeit weitererzählt.
Erwin Läpple, Waiblingen, Deutschland
Wenn jemand eine solche Geschichte braucht, hat er hiermit die Genehmigung Erwin Läpples, diesen Artikel zum verwenden.
Man darf ihn selbstverständlich auch nach Belieben verändern…
Oktober 1994 / Den Haag, Niederlande:
Ein Schüler fragte Sifu Wong Shun Leung, welche Ving Tsun Technik der Schlange und welche dem Kranich zuzuordnen seien. Wong Shun Leung antwortete, dass Ving Tsun von Menschen für Menschen sei und niemand die Anatomie dieser Tiere besässe und somit auch keine solcher Bewegungen ausführen könne.