Ving Tsun ist ein chinesisches Kampfsystem, welches der Geschichte nach zwischen dem Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts von einer Frau entwickelt wurde.

Aus dem Bedürfnis heraus, das eigene Leben verteidigen zu müssen, wurden unter strikter Berücksichtigung der Anatomie des menschlichen Körpers und physikalischer Gesetze, die benötigten Elemente entwickelt.

Ving Tsun Fauststoss demonstriert von Wong Shun Leung

Die Tatsache, dass eine Frau Ving Tsun entwickelt hat, verdanken wir es, dass die Priorität auf der Technik und nicht auf der rohen Muskelkraft liegt. Dies bedeutet nicht, dass Ving Tsun mit seinen schockartigen Techniken nicht knallhart ist. Lediglich wurde immer die Möglichkeit eines körperlich überlegenen Gegners berücksichtigt.

Die Bewegungen des Ving Tsun sind für Anfänger sicherlich gewöhnungsbedürftig. Das System entbehrt komplett showträchtiger Bestandteile, wie sie etwa aus einschlägigen Filmen bekannt sind. Ving Tsun will auch nicht spektakulär aussehen und enthält deshalb keine artistischen Elemente.

Wie bereits erwähnt, dient Ving Tsun lediglich dazu einen Kampf möglichst schnell und sicher zu beenden. Das System ist logisch und nüchtern aufgebaut. Grosser Wert wird auf die Sparsamkeit der Bewegungen sowie auf die Geradlinigkeit und Direktheit gelegt. Auch wird berücksichtigt, dass es immer Gegner mit grösserer Muskelkraft geben kann, deshalb verlässt man sich nicht auf Kraft, sondern auf Präzision. Bestandteile des Ving Tsun sind drei waffenlose Formen. Die erste Form, die Siu Lim Tag, ist eine Sammlung aller Ving Tsun Bewegungen. Im „ABC“ des Ving Tsun wird grossen Wert auf den Stand, die Basis aller Bewegungen gelegt. Schon bald nach der ersten 1. Ving Tsun Form beginnt der Schüler mit dem Chi-Sao-Training – auch die Seele des Ving Tsun genannt. Korrektes Chi-Sao-Training entwickelt die Reflexe, Schnelligkeit und Zielstrebigkeit, die in einem Kampf nötig sind. Die zweite Form, die Chum Kiu, beschäftigt sich mit Bewegungskombinationen, Drehungen, Tritten und dem Schritt. Sie dient letztlich dazu, den Gegner mit den einfachsten Mitteln zu schlagen.

Wong Shun Leung demonstriert eine Bewegung an der Hozpuppe

Die oft als Geheimform gehandelte 3. Form, die Biu Gee, wird vielfach als Angriffsform gelehrt, obwohl die Bewegungen völlig dagegen sprechen. Grundgedanke der Biu Gee ist die Meisterung von fast aussichtslosen Situationen.

Parallel mit dem. Studium der Chum Kiu werden Bewegungen an der sogenannten Holzpuppe erlernt, welche unter anderem die Abläufe der 2. Form unterstützen und perfektionieren. Ein Teil der Holzpuppenform behandelt auch Techniken der 3. Form.

Weiter dient das Holzpuppentraining dazu, das Timing zu verbessern und nachteilige Kampfsituationen zu korrigieren.

Ein weiterer Schwerpunkt des Holzpuppentrainings liegt in der Einhaltung von Bewegungsgrenzen, die gerade bei schnellen gegnerischen Angriffen nie überschritten werden dürfen, um so einen optimalen Schutz beim eigenen Gegenangriff zu haben.

Der Unterricht mit Waffen, dem Langstock (Lok Dim Poon Kwan) und den Doppelmessern (Bat Cham Do), hat neben dem praktischen Einsatz auch positive Auswirkungen auf Ving Tsun selber. So wird zum Beispiel der Stand, die Flexibilität und die Koordination sowie die spezielle Ving Tsun-Kraft verbessert.

Philipp Bayer und Jens Vanstreelen beim Langstocktraining

Das Training mit dem Langstock beginnt schon relativ früh, wogegen der Unterricht mit den Doppelmessern erst beginnt, wenn der Schüler in der Lage ist, seine Armtechniken wirkungsvoll einzusetzen und vollständig zu kontrollieren.

Das Zentrallinienprinzip sowie die daraus resultierende Schritttechnik unterscheidet sich wesentlich von dem Prinzip, welches in den waffenlosen Formen gelehrt wird. Würde ein Schüler zu früh mit der speziellen Schritttechnik und dem Prinzip der Messertechnik konfrontiert, müssten negative Folgen auf sein Ving Tsun befürchtet werden.